Was E-Sport und traditioneller Sport voneinander lernen können

Im heutigen Gastbeitrag erklärt Timo Schöber, warum er denkt, dass traditioneller Sport und E-Sport deutlich voneinander profitieren können – und mit einer Win-Win-Situation aus Kooperationen herausgehen sollten.

Da Timo in naher Zukunft wieder stark in berufliche Pflichten eingebunden sein wird, kann die Frequenz seiner Gastbeiträge auf Gaming-Grounds.de stark variieren.


Aktuelle Diskussionen drehen sich häufig darum, was E-Sport und Sport gemeinsam erreichen könnten, wenn mehr auf Gemeinsamkeiten denn auf Unterschiede geachtet werden würde. Immer mehr traditionelle Sportvereine gründen eigene E-Sport Abteilungen oder gehen Kooperationen mit E-Sport Organisationen ein, jüngst etwa der ehemalige deutsche Handballmeister Rhein-Neckar Löwen. Diese haben gemeinsam mit eSport Rhein-Neckar (ERN, Abteilung des TSV Oftersheim) das gemeinsame Projekt „ERN ROAR“ im Spiel League of Legends ins Leben gerufen.

Die Geschäftsführerin der Löwen Jennifer Kettemann sagt hierzu in der entsprechenden Pressemitteilung:

„Wir erschließen hiermit für die Rhein-Neckar Löwen eine völlig neue Welt.“

Warum dieser Satz die Chancen für den traditionellen Sport auf den Punkt bringt und welche Synergieeffekte zwischen E-Sport und klassischem Sport bestehen, wird folgend erörtert.

E-Sport: Was ist das eigentlich?

Um zu verstehen, welche Chancen sich aus dem E-Sport ergeben, ist es wichtig, dass klar ist, was „E-Sport“ eigentlich bedeutet.

Der Begriff E-Sport beschreibt das wettbewerbsorientierte Spielen von Videogames unter sportlichen Aspekten. Was so einfach klingt, ist jedoch relativ komplex. Mit einer Wettbewerbsorientierung gehen vielerlei Begleiterscheinungen einher:

  • Ganzheitliche Trainings inklusive Trainingsplänen

  • Vorbereitung auf Turniere und Ligen

  • Analysen von Gegnern und dem Meta, also den Spielinhalten, die aktuell besonders stark sind (Helden, Waffen, Fähigkeiten und so weiter)

  • Bei Teamspielen müssen die Kommunikation und das Zusammenspiel kontinuierlich angepasst und verbessert werden

Das sind ein paar Beispiele für Aspekte, die E-Sport aufgrund der ihm zugrundeliegenden Wettbewerbsorientierung vom Gaming, also dem „bloßen“ Spielen von Videogames, abgrenzen.

Darüber hinaus wird E-Sport, ähnlich der Leichtathletik, in unterschiedliche Teilbereiche aufgegliedert. Im E-Sport sind dies die Genres der einzelnen E-Sport Disziplinen (Videospiele), etwa Strategiespiele, Shooter und Sportsimulationen.

Was sich in vielerlei Definitionen zum E-Sport finden mag, ist aber nicht immer ganz korrekt. Professionalität ist hier das beste Beispiel. Sind E-Sportler alle Profispieler?

Profis und Amateure unter dem Dach des E-Sports

Professionalität meint im engeren Sinne, dass jemand etwas macht und damit Geld verdient. Auf den E-Sport gemünzt kann man also deutlich feststellen, dass nicht alle E-Sportler Profis sind. Im Gegenteil: Die wenigsten Spieler können mit dem E-Sport Geld verdienen oder gar von ihm leben. Über 99% der E-Sportler sind Breitensportler und Amateure.

Die Verwechslung zwischen Profisport und E-Sport mag bei vielen bestehen, weil E-Sport früher als Synonym für den Begriff Pro Gaming verwendet worden ist. In den mittleren Phasen der Entstehung des wettbewerbsorientierten Gamings lag ein deutlicher Fokus auf dem reinen Profibetrieb. Die hier aktiven Spieler nannten sich Pro Gamer. Nach und nach wurde der Begriff „Pro Gaming“ durch „E-Sport“ ersetzt. Seit einigen Jahren wird der E-Sport zunehmend heterogener, wenn es um seine Strukturen geht. Daher steht E-Sport inzwischen für das wettbewerbsorientierte Spielen im Allgemein – hier sind also auch Breiten- und Amateurspieler inkludiert.

Als Randbemerkung sei erwähnt, dass es auch bei Sportdefinitionen in vielen Quellen um Professionalität geht. Dennoch würde jeder von uns das Fußballspielen auf dem Bolzplatz um die Ecke als Sport bezeichnen. Nichts anderes erleben wir beim E-Sport.

Wenn die Strukturen vielfältiger geworden sind, wie ist der Status Quo in Deutschland?

E-Sport Landschaft in Deutschland

Hierzulande verfügen wir über eine sehr bunte und spannende Landschaft an E-Sport Vereinen, Organisationen und Veranstaltern.

Im ersten Schritt fallen einem einerseits die vielen professionellen Traditionsclans des deutschen E-Sports ein. Zu nennen sind hier SK Gaming, mousesports, PENTA Sports, mTw und andere. Andererseits ist die ESL ein wichtiges Standbein im deutschen und auch internationalen E-Sport. Die Organisation hat ihren Sitz in Köln und prägt wie kaum ein anderer die Entwicklung des E-Sports.

Im zweiten Schritt sieht man viele Breiten- und Amateursport Organisationen, die vor allem in den vergangenen Jahren zunehmend im E-Sport präsenter geworden sind. Diese Vereine üben zum einen praktischen Breitensport aus, nehmen zum anderen aber auch weitere, vielfältige Aufgaben wahr. Zu nennen sind etwa Vorträge, politische Aufklärung zum E-Sport, Vermittlung von Medienkompetenz, Suchtprävention, das Organisieren von Events, die Zusammenarbeit mit Jugendringen und vieles mehr. Viele dieser Vereine haben eine Strahlkraft weit über die eigene Stadt hinaus, der eSports Nord e.V. etwa in Schleswig-Holstein oder eSport Rhein-Neckar in Baden-Württemberg.

Im letzten Schritt ist eine verstärkte Verschmelzung von E-Sport und traditionellem Sport zu erkennen. Das betrifft nicht nur Projekte, wie das in der Einleitung genannte „ERN ROAR“ oder den TSV Oftersheim, sondern viele Organisationen in Deutschland. Das bedeutet nicht nur, dass E-Sport Abteilungen in traditionellen Sportvereinen gegründet werden, sondern auch, dass E-Sport Vereine und Sportvereine kooperieren und gemeinsame Projekte auf den Weg bringen.

Ein herausragendes Beispiel für diesen, nach aktuellem Stand jüngsten Evolutionsschritt, ist das Projekt PENTA.1860. Einerseits haben die Berliner Profi-E-Sport Organisation PENTA Sports und der Traditionsclub des klassischen Sports TSV 1860 München hier eine gemeinsame Marke geschaffen. Diese umfasst ein Profiteam, das im Spiel League of Legends in der Prime League antritt. Andererseits geht man aber auch gemeinsam den Weg des Breitensports. So wurde beim TSV 1860 München gemeinsam mit PENTA ebenfalls eine Breiten-E-Sport Abteilung gegründet.

Warum aber diese Übersicht zum E-Sport, wenn es um Vorteile von „E-Sport + traditionellem Sport“ geht?

Sportlichkeit des E-Sports und Diskussion

Die Herleitung ist wichtig, um den Ist-Stand, die Vielfältigkeit und die zunehmende Strukturalisierung des E-Sports aufzuzeigen. Dies ist essenziell, um beim traditionellen Sport als glaubwürdiger und auch nützlicher Partner auftreten zu können. Es ist wichtig deutlich zu machen, wie weit E-Sport in Deutschland inzwischen ist und was er kann.

Gerade in Deutschland wird darüber hinaus intensiv diskutiert, ob E-Sport als Sport zu werten sei oder nicht. Während knapp 60 Länder der Welt diese Frage längst mit einem „Ja“ beantwortet haben, ist man in Deutschland leider noch nicht so weit. Das hängt auch mit der in Deutschland geltenden Autonomie des Sports zusammen. Anderenorts entscheiden Sportministerien und die Politik über die Sportlichkeit eines Phänomens. In Deutschland obliegt dies einzig und alleine dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), der seine ablehnende Haltung zum E-Sport zwar nach und nach aufgeweicht, im Kern aber nach wie vor deutliche Vorbehalte hat.

Forschung und Wissenschaft sehen E-Sport immer häufiger eher als Sport, denn dies abzulehnen. Das ist gerade für diesen Artikel spannend. E-Sport bringt viel mit, das auch im traditionellen Sport von hoher Relevanz ist, etwa:

  • Feste Regeln und Spielziele

  • Kommunikation und Teamplay

  • Fairplay

  • Umfassende Strukturen und Organisiertheit

  • Ambivalenz und Spannung

  • Freiheit und freiwillige Teilnahme

  • Zweckfreiheit, aber Sinnstiftung

  • Selbstwirksamkeit, Selbstbewusstsein und Identitätsstiftung

  • Ästhetik

E-Sport und klassischer Sport haben mehr gemein als viele denken mögen. Das kann und sollte Brücken schlagen und keine Mauern bauen. Wie der Status Quo des E-Sports ist wissen wir nur, wie sieht es aber beim traditionellen Sport aus?

Status Quo des traditionellen Sports

Sport hat in der gesamtgesellschaftlichen Struktur Deutschlands einen festen Platz und wird sehr positiv wahrgenommen – und das auch mit Recht. Unser Land hat viele tausend Sportvereine, die sehr gute Arbeit leisten und mit dem DOSB einen Dachverband des Sports, der weltweit seinesgleichen sucht. Sport nimmt dabei vielerlei gesellschaftliche Aufgaben wahr, etwa die Förderung der Jugend, Freizeitgestaltung, Unterstützung karitativer Zwecke, Schaffung von Arbeitsplätzen, Forschung, Lehre, Reichweitengeber für die Wirtschaft und so weiter.

Rund 40 Millionen Deutsche treiben mehr oder minder regelmäßig Sport in ihrer Freizeit. Das entspricht im Übrigen ungefähr der Anzahl an Gamern (34 Millionen, nicht nur E-Sportlern), die wir in Deutschland haben.

Auch im Profisport und dem gehobenen Amateursport gehört Deutschland zu den Besten. Im Ewigen Medaillenspiegel der Olympischen Sommerspiele steht Deutschland auf Platz 3, bei den Winterspielen ist es gar Platz 1 – zusammengenommen ist Deutschland auf dem zweiten Rang, hinter den Vereinigten Staaten. Auch bei den beliebtesten Mannschaftsportarten ist Deutschland vorne mit dabei. Mit vier Weltmeistertiteln im Fußball (Platz 2 hinter Brasilien) und dreien solcher Titel im Handball (Platz 4) muss sich unser Land im internationalen Vergleich nicht verstecken.

Der traditionelle Sport, seine Vereine und Verbände haben sehr viel für unsere Gesellschaft, unser Land und unser Vorankommen geleistet. Das muss man anerkennen.

Dennoch steht fest, dass traditionelle Sportvereine mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben. Vielen Kindern und Jugendlichen sind die Angebote nicht attraktiv genug gegenüber „Konkurrenzprodukten“, bei vielen jungen Erwachsenen überwiegt der Sport im Fitnessstudio gegenüber einem Vereinssport.

Auch E-Sport ist von vielen Sportverantwortlichen als Mitschuldiger an der Misere ausgemacht worden. Falscher könnten die Kritiker am E-Sport an dieser Stelle nicht liegen. Ein ideologisch getriebenes „Gegeneinander“ hat noch nie jemandem genutzt, sondern vielmehr allen Beteiligten geschadet. Das ist hier nicht anders. Anstatt also mit dem Finger auf den E-Sport zu zeigen, sollten Entscheidungsträger des traditionellen Sports lieber die Chancen des E-Sports für das eigene Wirken erkennen und ergreifen.

Worum genau geht es?

Synergieeffekte, Chancen und Nutzen

Rund vier Millionen Menschen betreiben E-Sport in Deutschland. 23% dieser Menschen sind 20 Jahre oder jünger, 61 Prozent sind unter 36. Für traditionelle Sportvereine bedeutet dies, dass sie über den E-Sport Nachwuchs auch für den klassischen Sport gewinnen könnten, etwa durch ganzheitliche Angebote. Wohlgemerkt sollten E-Sportler beim Eintritt in einen Verein aber zu nichts gezwungen werden. Regeln nach dem Motto „Wer E-Sport macht, muss auch Fußball spielen“ funktionieren nicht und schrecken nur ab. Vielmehr gilt es attraktive Modelle zu erarbeiten und zu nutzen, um beide Seiten für alle Vereinsmitglieder interessant zu gestalten.

Ausgleichssport ist für E-Sportler nämlich überaus wichtig (Beispiel).

Traditionelle Sportler wiederum können E-Sport Einrichtungen im eigenen Verein nutzen, um gezielt bestimmte Aspekte zu trainieren, die auch für den klassischen Sport nutzbar gemacht werden können. Man denke hier etwa an feinmotorische Prozesse, das periphere Sehen oder Multitasking-Fähigkeiten.

In Zeiten von Corona hat sich gezeigt, dass es gerade der E-Sport ist, der weiterhin funktioniert und sogar wächst. Hinzukommen Chancen der Digitalisierung, etwa bei der Vereinfachung von Prozessen, die traditionelle Sportvereine für sich nutzbar machen können. E-Sportler sind häufig „Digital Natives“, sie verstehen und beherrschen die Instrumente der digitalen Welt. Sportvereine können sich durch E-Sport sehr viel diesbezügliches Know-How in ihre Struktur holen.

E-Sport und traditioneller Sport finden, wie eingangs angedeutet, teilweise in verschiedenen Welten statt. Das bedeutet, dass unterschiedliche Zielgruppen, endemische Sponsoren, Reichweiten und Marketingkanäle existieren. Durch Kooperationen von traditionellen Sportvereinen und E-Sport Organisationen werden diese Dinge gebündelt und auf ein gemeinsames Ziel hin kanalisiert. Das ist nicht nur effektiver, sondern auch kosteneffizienter. Für beide Seiten können hieraus neue Kooperationen, Absatzmärkte und Sponsorings erwachsen.

Viele Menschen sehen klassischen Sport zurecht sehr positiv, viele (vielleicht auch andere) Menschen lieben den elektronischen Sport. Durch Kooperationen kann sich das gesellschaftliche Bild beider Phänomene deutlich verbessern, weil ein „Wir-Gefühl“ erzeugt wird – und kein zeit- und ressourcenfressendes Gegeneinander. Hierbei geht es nicht nur um das Image, sondern um tatsächlich gelebte Werte und Gemeinsamkeiten: Fairplay, Weltoffenheit, Toleranz, sportliches Sich-Messen und vieles mehr.

Darüber hinaus gilt, dass Sport und E-Sport zusammen wesentlich größer sind als jeder für sich alleine. Das stärkt die Verhandlungsposition und die Wahrnehmung bei Dritten.

Der traditionelle Sport hat über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte hinweg Erfahrungen gesammelt, Strukturen aufgebaut und viele positive Dinge bewirkt. Hieran kann sich der im Vergleich noch junge E-Sport orientierten und ein Beispiel nehmen. Im Umkehrschluss kann E-Sport den klassischen Sport dabei unterstützen, Chancen der Gegenwart und der Zukunft besser wahrzunehmen, etwa im Zuge der Digitalisierung.

Das als ein paar Beispiele für Synergieeffekte. Wie geht es aber weiter?

Die nächsten Schritte und Intensivierung

Traditionelle Sportvereine, die mit dem Gedanken spielen in den E-Sport einzusteigen, sollten im ersten Schritt vom Genre-Denken wegkommen. Das bedeutet konkret, dass man nicht nur Sportsimulationen aufnehmen sollte, sondern den E-Sport in seiner Gesamtheit. Alles andere wird in der sehr liberal geprägten E-Sport Szene anderenfalls potenziell als „Diktat des Sports“ aufgenommen.

Ganz davon ab, dass E-Sport nun einmal mehr (viel mehr!) ist, als nur Sportsimulationen. E-Sport ist Vielfalt, auch bei den Genres und Disziplinen. Dazu gehört ein League of Legends ebenso, wie ein Counter-Strike oder ein FIFA (85er Modus).

Darüber hinaus gilt es für beide Seiten frei von Vorurteilen aufeinander zuzugehen. Vorurteile und Bewertungen, ohne sich mit etwas beschäftigt und miteinander geredet zu haben, bauen Mauern, die unnötig und wenig zielführend sind.

Fazit

Wir erinnern uns: Jennifer Kettemann sprach im Zusammenhang mit der Kooperation von den Rhein-Neckar Löwen und dem TSV Oftersheim von „einer neuen Welt“, die sich für sie und damit dem Sport erschließen würde. Diese neue Welt hält viele Chancen und Potenziale für den traditionellen Sport bereit. Im Gegenzug kann auch der E-Sport vom klassischen Sport profitieren: Eine Win-Win-Situation für beide Seiten.

Wie seht ihr die Kooperation von traditionellem Sport und E-Sport?
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Timo Schöber
Timo Schöberhttp://www.timoschoeber.com/
Timo Schöber ist Autor, Wissenschaftler und Hochschuldozent. Er ist Leiter der Denkfabrik Esportionary sowie als Berater unter anderem für Skillshot Consulting tätig. Er engagiert sich ehrenamtlich für den eSports Nord e.V.
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