Timo Schöber: Baustelle deutscher E-Sport – eine Problemanalyse

Aufgrund neuer beruflicher Herausforderungen und meiner Fokussierung auf die Forschung zu den Themen E-Sport und Gaming, ist es in Sachen Gastbeiträge bei mir in den letzten Wochen sehr ruhig geworden. Das wird auch weiterhin so bleiben. Allerdings möchte ich die Gelegenheit der mit der Coronakrise einhergehenden Entschleunigung dazu nutzen, um ein paar Problemlagen im deutschen E-Sport aufzuzeigen, die mir bei der Mitarbeit in einigen zurückliegenden und auch gegenwärtigen Projekten aufgefallen sind.

Deutschland unterscheidet sich hier in Teilen immens von anderen Märkten, auch im europäischen Raum. Schweden, Frankreich, Dänemark oder auch Polen sind hier an vielen Stellen deutlich weiter.

Historische Einordnung

In der frühen Entwicklung des modernen E-Sports, die man ab Mitte der 1990er Jahre verorten kann, gehörte Deutschland in Europa, teilweise sogar weltweit zu den Innovations- und Markttreibern.

Hierzulande sind damals Clans entstanden, die im globalen E-Sport temporär oder gar nachhaltig eine große Rolle gespielt haben – oder immer noch einnehmen. OCRANA, Gründung 1996, gehörte etwa in den Spielen Unreal Tournament, Counter-Strike und Warcraft 3 zur internationalen Spitze. Im Jahre 2002 konnte man gar die WC3L gewinnen, die damals als wichtigste Teamliga im herausragendsten Echtzeitstrategiespiel jener Zeit gegolten hat.

Ein Jahr nach OCRANA wurde Schroet Kommando gegründet, die heute vielen besser als SK Gaming bekannt sein dürften. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem das legendäre schwedische Counter-Strike Team, das für die deutsche Organisation aufgelaufen ist und so namhafte Spieler wie Abdisamad „SpawN“ Mohamed und Emil ‚HeatoN‘ Christensen in seinen Reihen gehalten hat, auch, wenn Letzterer aufgrund seiner finanziellen Eskapaden inzwischen einiges an Ruf eingebüßt hat. Auch außerhalb von Counter-Strike zählte SK viele Jahre zur Weltspitze. Zu nennen sind hier drei Siege bei der WC3L, die alles dominierende Phase in FIFA der Schellhase-Zwillinge oder aber herausragende Erfolge in den Spielen League of Legends und Quake.

Über die Zeit sind in Deutschland immer wieder Toporganisationen entstanden, die auch im internationalen Vergleich auf sich aufmerksam machen konnten. Man denke etwa an mousesports (2002), PENTA (2013) oder Berlin International Gaming (2017).

Aber nicht nur auf Teamebene ist der Status Deutschlands im historischen Kontext von großer Relevanz. Mit der Electronic Sports League (ESL) ist in Deutschland im Jahr 2000 ein Konkurrenzprodukt zur damals populären ClanBase entstanden, die aus den Niederlanden stammte. Inzwischen ist die ESL der größte und relevanteste Veranstalter von E-Sport Wettbewerben der Welt. Mit Wettbewerben wir der ESL One Series, der Pro League oder den Intel Extreme Masters hat die ESL immer wieder neue Maßstäbe im E-Sport gesetzt.

Deutschland gehört in Sachen Strukturen, historischer Bedeutsamkeit und Erfolgen also eigentlich zu den ganz Großen im E-Sport. Eigentlich.

Clanhopping, toxisches Verhalten, Skandale, Community

Die Clanstrukturen und die Community in Deutschland zeichnen sich häufig vor allem durch eines aus: Ungeduld. Während andere Länder auf Nachhaltigkeit und eine langfristige Zielerreichung setzen, werden nach wenigen Monate des Ausbleibens der ganz großen Erfolge im deutschen E-Sport direkt komplette Teams umgebaut oder verworfen.

Counter-Strike: Global Offensive ist an dieser Stelle ein gutes Beispiel. Hier gab es unterschiedliche „Zeitalter“, dominante Phasen von Teams und Clans bestimmter Nationen. Beginnend mit dem schwedischen Zeitalter (NiP, fnatic), gefolgt vom französischen Zeitalter (LDLC, Envy), über das brasilianische Zeitalter (LG, SK) bis hin zum dänischen Zeitalter (Astralis). Die Teams jener Zeit zeichneten sich vor allem durch eines aus: Konstante Lineups. Es gab bisher 15 Major-Turniere. Noch nie hat es ein deutsches Lineup auch nur ins Finale geschafft.

Diese Veränderungen und Umbrüche sind oft nicht einmal nur clangetrieben, sondern resultieren auch aus der Community. Wer sich die Kommentarsektionen der großen deutschen Szeneseiten zum Valve-Titel einmal anschaut, der wird feststellen, dass bei jedem auch noch so kleinen Rückschlag direkt Veränderungen im Lineup gefordert werden. Ein Indiz dafür, dass weite Teile der deutschen Community nicht verstanden haben, dass Erfolg im E-Sport mit harter Arbeit, Willen, Training, der Abstimmung aufeinander und Nachhaltigkeit zusammenhängt.

Toxisches Verhalten in vielen Videospielen und auch Skandale, wie der Cheating-Betrug vom deutschen Star Simon „smn“ Beck tragen ihr Übriges zur Problemlage „Community“ bei. Zwar kein ausschließlich deutsches Problem, weil dies auch in anderen Ländern zur Genüge vorkommt, aber dennoch ein verstärkender Faktor.

Blendertum und Missgunst

Ein gesellschaftliches Phänomen, das auch für den E-Sport gilt, ist „Mehr Schein als Sein“. Eindrucksvoll ist hier zum Beispiel für mich immer die Bezeichnung „Chief Executive Officer“ (CEO). Dies meint im engeren Sinne eigentlich den Geschäftsführer und/oder Vorstandsvorsitzenden einer Kapitalgesellschaft, also eines in der Regel großen Unternehmens. Im E-Sport nennt sich jeder CEO, der einen kleinen Amateurverein mit fünf Mitgliedern führt. Das ist nicht nur albern, sondern entwertet auch die Position derjenigen Menschen, die tatsächlich als CEO für große E-Sport Organisationen, von denen wir in Deutschland nur gut ein Dutzend haben, arbeiten.

Das ist ein Beispiel von vielen. Ich möchte mich selbst da übrigens gar nicht ausnehmen, so viel Selbstkritik sei gestattet: Auch ich dehne die Wahrheit manchmal innerhalb und außerhalb des E-Sports sehr stark oder überzeichne meine Person. Nicht zuletzt meine philosophischen und religiösen Überzeugungen lassen mich dies dann aber, wie jetzt hier, wieder relativieren. Selbstreflexion und das Hinterfragen des eigenen Tuns sind Eigenschaften, die im deutschen E-Sport leider bestenfalls rudimentär vorhanden zu sein scheinen.

Missgunst ist eine andere Problemlage. Neue Projekte, Ideen und Konzepte stoßen vielerorts nicht auf Unterstützung, Bewunderung oder konstruktive Kritik, die durchaus erlaubt ist, sondern auf Neid, Diffamierungen und Rufmord-Kampagnen. Ich habe dies selbst erleben müssen. Wenn man zum Beispiel sachbezogene, nüchterne Kritik an bestimmten Organisationen oder auch Personen übt und dies gleichzeitig um Verbesserungsvorschläge erweitert, dann wird dies im E-Sport häufig persönlich genommen. Menschen reagieren beleidigt. Das mag eine mittelbare Folge des nicht-relativierten Blendertum-Problems bei einigen, aber nicht allen Menschen sein: Wo die Decke des eigenen Seins dünn ist, reagiert man schnell beleidigt auf äußere Einflüsse und hinterfragt sich nicht. Psychologen kennen dieses Phänomen vom Narzissmus.

Profi- versus Breitensport sowie Definitionen

Der Begriff E-Sport wird innerhalb und außerhalb der Szene häufig nicht klar abgegrenzt, woraus vielerlei Problemlagen entstehen, wenn es etwa um die Anerkennung oder Wahrnehmung des E-Sports geht.

Von einigen Proficlans etwa wird E-Sport als Synonym für Pro Gaming genutzt. E-Sport sei demnach nur das, was Geld generieren und Spieler bezahlen würde. Dass das so nicht richtig ist, zeigt eine große und bunte Landschaft an Breiten- und Amateurvereinen im E-Sport.

Grundsätzlich ließe sich E-Sport so definieren:

„eSports beschreibt das wettbewerbsorientierte Spielen von Videogames unter sportlichen Aspekten auf Computern, Konsolen oder Smartphones.“ (Schöber, Junge: eSports Mosaik, Flying Kiwi Media, Dollerup, 2020)

Eine allgemeingültige Definition existiert allerdings (noch) nicht. Dies hat Missverständnisse und Reibungsverluste zur Folge.

DOSB und ESBD

Meine kritische, persönliche Meinung zum eSport-Bund Deutschland (ESBD) dürfte hinlänglich bekannt sein. Dies ist nicht Thema dieses Gastbeitrages. Vielmehr geht es um das Verhältnis von Deutschem Olympischer Sportbund (DOSB) und ESBD.

Durch das Auftreten des ESBD (Gründung 2017, 50 Mitglieder) gegenüber dem DOSB (Gründung 1895, 90.000 Mitglieder) ist es innerhalb der Sportwelt und der Politik zu einigen Verwerfungen gegenüber dem E-Sport gekommen. Der ESBD wollte trotz seines heterogenen Status innerhalb der E-Sport Szene sowie seiner überschaubaren Größe mit dem DOSB „auf Augenhöhe“ verhandeln, wenn es um die Anerkennung und Förderung des E-Sports geht. Das wirkte auf viele, mich eingeschlossen, nicht nur überheblich, sondern auch wenig zielführend. Im Ergebnis hat sich die kritische Haltung des DOSB dem E-Sport gegenüber verstärkt.

Der DOSB wiederum ist für den deutschen E-Sport gegenwärtig auch für sich genommen mehr Problem als Chance. Da in Deutschland nur der DOSB entscheidet, was offiziell als Sport gilt und was nicht, unterscheidet sich unser Land an dieser Stelle von den meisten anderen Nationen der Erde. Der DOSB steht E-Sport ablehnend gegenüber. Die Motive und Motivationslagen diesbezüglich sind vielschichtig und teilweise nebulös. Im Ergebnis bedeutet es aber, dass die Anerkennung von E-Sport nicht rein politisch erwirkt werden kann.

Politik und Anerkennung

Obwohl die Sporthoheit in Deutschland beim DOSB liegt, ist das politische Wirken für den E-Sport wichtig. Einerseits zur Schaffung von Strukturen und der gesellschaftlichen Arbeit, andererseits um Fürsprecher und Argumente für den E-Sport zu sammeln.

Ein Problem der politischen Arbeit ist das unstete Verhalten von Parteien und Politikern, das sich in Teilen leider häufig finden lässt. Mal werden Aussagen und sogar Koalitionsverträge „pro E-Sport“ getroffen und geschlossen, nur, um dann im nächsten Atemzug umgedeutet oder gar gestrichen zu werden.

Eine positive Vorreiterrolle nimmt Schleswig-Holstein ein. Im Land zwischen den Meeren wird E-Sport offiziell mit Fördergeld unterstützt, um Breitensport- und Bildungsstrukturen schaffen zu können. Aber auch hier zeigen sich Probleme im demokratischen Diskurs: Der Ministerpräsident des Landes Daniel Günther (CDU) hat sich nach dem Einsatz für den E-Sport mit der sogenannten Kieler Kehrtwende wieder vom E-Sport distanziert. Vermutlich, weil der Landessportverband ihn dazu angeregt hat. Inzwischen hat er auch seine Distanzierung wieder in Teilen zurückgenommen. Derartige Verhaltensweisen machen E-Sport auf dem politischen Parkett zu einem Drahtseilakt.

Gesellschaftliche Wahrnehmung

Killerspieldebatte, Suchtthematik, Medienkompetenz, Jugendschutz, Übergewicht: Deutschland tut sich schwer mit dem Gaming und überhöht mögliche Problemstellungen bei gleichzeitigem Kleinreden von Chancen, Nutzen und positiven Aspekten. Das mag ein grundsätzliches Problem der deutschen Kultur sein, das ich in dieser Härte und Konsequenz von keinem anderen Land kenne. Skepsis und Angst gehen hierzulande oft Hand in Hand.

Ferner werden in der gesellschaftlichen Debatte zum E-Sport die Begriffe Gaming und E-Sport sehr oft miteinander vermengt. Viele Diskussionen werden auch ideologisch geführt und nicht im Hinblick auf Lösungen oder einen konstruktiven Austausch. So gelten viele der Risiken, die für das Gaming gelten mögen, nicht oder in einem deutlich geringeren Maße für den E-Sport, weil dieser sich vor allem durch seine Wettbewerbsorientierung definiert – mit allen damit einhergehenden Aspekten, wie Training, kognitive Arbeit und dem Schärfen von Fähigkeiten. Derartige Vorteile des E-Sports finden sich in vielerlei Diskussionsrunden aber nur sehr unzureichend, teilweise sogar gar nicht.

Auch die mediale Berichterstellung unterscheidet sich teilweise immens. Einmal in ihrer Bewertung des Themas, was an sich gut und unproblematisch ist, andererseits aber auch im Weg dorthin. Wenn Berichte ideologisch motiviert und unfair sind, teilweise inhaltlich gar falsch, dann ist dies ein Problem für den E-Sport insgesamt und hat massive Nachteile zur Folge, etwa bei der Wahrnehmung des Themas in der Gesellschaft.

Räumlichkeiten, Bürokratie und Verwaltung

Resultierend aus Problemen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und des politischen Diskurses, ergeben sich auch bürokratische und verwaltungstechnische Hürden. Einerseits ist E-Sport nicht als Sport anerkannt, im Sinne der Abgabenordnung kämen zwar auch andere Aspekte als Sport in Betracht (Jugendarbeit, Kulturgut Spiel), aber grundsätzlich hat die fehlende Anerkennung eine ausbleibende Gemeinnützigkeit zur Folge. Das birgt zum Beispiel steuerliche Nachteile.

Zum anderen sind häufig Vorbehalte in Stadtverwaltungen spürbar. Dies kann sich auf Genehmigungsprozesse für E-Sport Räumlichkeiten, Umbau- und Ausbaumaßnahmen sowie die öffentliche und mediale Berichterstattung auswirken.

Fazit und Relativierung

In diesem Artikel geht es um Problemlagen – dementsprechend mag er die Gesamtsituation wesentlich negativer erscheinen lassen als sie ist. Vieles im deutschen E-Sport ist positiv, etwa die historische Wichtigkeit, der zunehmende Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sowie die kontinuierliche Schaffung von Intrastruktur in Form von beispielsweise Vereinsheimen und Leistungszentren.

Auch engagieren sich viele Menschen sehr offen und ehrlich für den E-Sport, ganz ohne Eigennutz oder andere negative Aspekte. E-Sport ist in Summe etwas sehr Positives, mit vielen Chancen und Potenzialen für Gesellschaft, Bildung, Politik, Wirtschaft, Digitalisierung, Berufsbilder und Wissenschaft.

Dennoch war es mir wichtig einmal aufzuzeigen, wo Dinge im Argen liegen und welche Verbesserungsmöglichkeiten es gibt. Ich möchte abschließend dennoch nochmals darauf hinweisen, dass die meisten Menschen im Bereich E-Sport ein großer Gewinn für die Szene sind. Auch Konzepte zum solidarischen Miteinander im E-Sport gibt es und sie stärken das Wir-Gefühl als auch den gesamten Komplex „deutscher E-Sport“.

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Timo Schöber
Timo Schöberhttp://www.timoschoeber.com/
Timo Schöber ist Autor, Wissenschaftler und Hochschuldozent. Er ist Leiter der Denkfabrik Esportionary sowie als Berater unter anderem für Skillshot Consulting tätig. Er engagiert sich ehrenamtlich für den eSports Nord e.V.
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